Die vielfältigen Seiten des Abschieds
Jeder Abschied bringt die Entscheidung zum Ausdruck, etwas gehen zu lassen, was wir nicht auf- oder festhalten können. Ina Schmidt
Mein lieber Stiefvater, 88 Jahre alt, ist nach längerer, schwerer Krankheit verschieden. Das war und ist immer noch sehr traurig. Ich habe schon länger gesehen, dass seine Zeit mit uns zu Ende geht. Auch aus diesem Grund war eine Begegnung kurz vor seinem Tod zwischen meiner Tochter und ihm ein wichtiger Moment, den ich in diesem Bild unbedingt festhalten wollte. Es war und ist für mich eines dieser Bilder, die ich von ihm im Herzen weiter tragen werde – auch wenn er nicht mehr da ist. In dem Moment, wo die beiden vor mir saßen, war mir bewusst, wie wichtig dieser Augenblick ist und wieviel Dankbarkeit ich damit verbinde, dass er 46 Jahre in unserer Familie war. Fast mein Leben lang – und nun ist das anders.
Die vielfältigen Seiten des Abschieds
Normalerweise verbindet man mit Abschied nehmen eine leidvolle Erfahrung, dunkle und traurige Stunden und auch häufig mit vielen Verlustängsten. Das kann – muss aber nicht sein. Denn der Abschied von meinem Stiefvater, oder auch mein sozialer Vater, lässt mich auf eine lange Zeit zurückblicken, die ich besonders jetzt mit viel Liebe verbinde. Das ist mir dadurch nochmal sehr deutlich geworden – in den besonderen Stunden des Abschieds.
Mein besonderes Geschenk an ihn war, dass ich für ihn eine Trauerrede verfasst habe, die ich bei der Beerdigung gehalten habe. Als Dankeschön für die gemeinsame Zeit! Ich bin also besonders dankbar dafür, dass er in meinem Leben war – und auch traurig, dass er jetzt in Person nicht mehr da ist. Für mich war es sehr wertvoll, dieses Abschiedsritual in Form einer Rede für ihn zu verfassen.
Andere Seiten des Abschieds beschreibt Ina Schmidt in ihrer Philosophie des Abschieds sehr treffend: „Es gibt aber auch Abschiede, die uns leichtfallen, die das Leben wirklich erleichtern, eine Last von uns nehmen und überfällig waren, um weiterziehen zu können – endlich ist die Abschlussprüfung geschafft oder wagen wir, uns von einem längst nicht mehr geliebten Partner zu trennen.“ Hier geht es darum einem längst endgültigem Zustand ein Ende zu setzen. Dies ist eine sehr positive Seite des Abschiednehmens, die einem Platz gibt, etwas Neues ins Leben zu lassen. Oder einen ganz neuen Abschnitt im Leben zu starten.
Viel schlimmer wiegt natürlich die Situation, wo man keinen richtigen Abschied nehmen kann, wenn Menschen durch Kriege, Unfälle oder Verbrechen plötzlich verschwinden. Damit umzugehen ist sehr viel schwieriger – denn am Ende kommt die Hilflosigkeit zum Tragen, wie lebe ich mit dem Gefühl dieses Unausweichlichen weiter? Diese Form ist viel schmerzhafter, als die vorherigen Beispiele und bedarf viel mehr Zeit und Achtsamkeit mit den Gefühlen umzugehen.
Möglichkeiten und Phasen des Abschieds
Einige Menschen können mit Abschied nehmen nicht gut umgehen. Sie suchen schnell eine Ablenkung oder kompensieren ihren Schmerz mit vielerlei Möglichkeiten. Nur um sich der Endgültigkeit zu entziehen. Ich bin davon überzeugt, dass einen das irgendwann wieder einholt. Dann, wenn man gar nicht damit rechnet.
Auch in meiner Praxis trauern manche Menschen, weil hier ein Raum ist, diesem wichtigen Gefühl des Abschieds einen guten Platz zu geben. In tiefer Verbundenheit zu einer verstorbenen Großmutter, einem Bruder oder einer lieben Freundin, die nicht mehr da sind. Es lohnt sich, sich diese Zeit zu nehmen, um den wichtigen Menschen oder auch einem verstorbenen Haustier einen Platz im Herzen zu geben. Auch Lebensthemen zu betrauern, die nicht mehr umgesetzt werden können, weil sie nicht mehr ins Leben passen. Um dann mehr Klarheit zu gewinnen, was wirklich wichtig ist oder was jetzt ansteht. Es entsteht somit Raum und ein Anfang für etwas Neues.
Menschen, die trauern durchlaufen vier Phasen. Nicht durchgängig, manchmal geht es auch wieder zurück und dann kommt die nächste Phase. Verena Kast, eine Schweizer Psychologin hat beschrieben, dass wir im Trauerprozess unterschiedliche emotionale Stationen erleben, die insgesamt als Trauer bezeichnet wird. Es geht um Trauerbewältigung, damit die Trauer nicht verdrängt und zum seelisch-chronischen Problem wird, das beispielsweise in einer Depression mündet.
Trauer zulassen, Trauer verarbeiten, Trauer bewältigen, Trauer überwinden: Darum geht es im Trauerprozess und seinen einzelnen Phasen. Ein unvollendeter Trauerprozess kann einen später wieder einholen, wenn man z.B. erneut vor dieser Situation steht und es einem unendlich schwer fällt, den Abschied zu nehmen. Weil es bereits eine andere vorherige Geschichte dazu gibt, die aber nicht bewältigt wurde. Dann holt einen die alte Trauer wieder ein…
Der Ausblick auf etwas Neues
Am Ende bleibt die Erinnerung. Der Rückblick auf Situationen, Anekdoten, Erfahrungen, die man mit dem Menschen, dem Haustier, einem Beruf oder auch einer Idee verbunden hat sind ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität. Warum sollte man dem keinen Platz einräumen, es in Teilen auch wieder ins Bewusstsein zurückholen? Die Erfahrung, falls sie prägend war, ist wertvoll. Und wichtig ist auch, Trauer kommt und geht, wie eine Welle. Sie wird schwächer im Laufe der Zeit, auch wenn man sich das anfänglich gar nicht vorstellen kann. Denn dahinter steht die Akzeptanz des Abschieds.
Ich habe auf jeden Fall durch den Abschied von einem lieben Menschen gemerkt, wie wichtig er wirklich war. Welche Geschichten ich mit ihm verbinde und denke gerne daran – besonders jetzt, wo er nicht mehr da ist. Sehr treffend war deshalb auch die Anzeige zu seinem Tod, die wir gemeinsam in der Familie ausgewählt haben:
Überall sind Spuren deines Lebens. Gedanken, Bilder, Augenblicke und Gefühle. Sie werden uns immer an dich erinnern.