25 letzte Sommer oder: wie verbringe ich den Rest meines Lebens?
Manchmal verliert man aus den Augen, was einem gut tut. Aber eins weiß ich genau: Die erste Tasse Kaffee nach dem Baden ist die schönste des Tages.
So beginnt die herzerwärmende Geschichte über eine Lebensbetrachtung von Stephan Schäfer, der glücklicherweise Karl begegnet, um wesentliche Lebensfragen zu reflektieren. Sein Roman „25 letzte Sommer“ trifft mit Exaktheit genau die Zahl, die man mit 60 Lebensjahren – wenn alles gut geht – durchschnittlich noch vor sich hat. Menschen in dieser Lebensphase werden sich bewusst, dass gut zwei Drittel des Lebens vergangen sind. Meistens mit viel Arbeit und viel zu viel Aktivitäten, die einen von den Dingen ablenken, die wirklich wesentlich sind.
Schäfer schreibt es treffend: „Irgendwas war immer. Abarbeiten statt leben.“ oder: „Irgendwo im Leben hatte ich die falsche Abzweigung genommen, den inneren Kompass verloren.“
Was ist wirklich wesentlich?
In meiner Praxis habe ich auch jüngere Menschen, die sich fragen, ist das, was ich tue wesentlich? Oder lenkt es mich nur davon ab, was ich wirklich möchte? Gut, dass sie diese Reflexion tätigen und sich auf den Weg machen. Aber es gibt auch die „Anderen“, d.h. Menschen, die im Übergang zu diesen besagten verbleibenden 25 Lebensjahren sind und eigentlich merken, dass einiges fehlt. Dass sie manches nicht getan oder Gelegenheiten verpasst haben…
Und es gibt weitere Gründe, warum man sein Leben nicht wirklich lebt. Auch hier fasst es Schäfer in der Begegnung mit seinem neuen Freund Karl mit einem Satz zusammen: „Ich war beruflich nicht meinen, sondern den Erwartungen meiner Eltern gefolgt“. Was ist wirklich das meine oder erfülle ich Ansprüche oder Vorstellungen aus meiner Kernfamilie? Wäre ich lieber Schriftstellerin, Ärztin oder Forscher geworden? Stattdessen bin ich Controller/in über einen Haufen von Kennziffern – aber es erfüllt mich nicht.
Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang das Thema Sicherheit. Nicht jede/r ist z.B. für die Selbständigkeit oder das Ausleben der eigenen Vision geeignet. Die Risiken und Ängste eines Lebens, wo man nicht weiß, wie am Ende oder Anfang des Monats die Lebenshaltungskosten beglichen werden sollen. Dies liegt oft in der Geschichte der Familie verborgen. Gab es dort schon Menschen, die hier Vorbild waren oder wie in Schäfers Roman: “ Alles Neue, jede Veränderung, jeglicher Wagemut waren für sie Gefahr und nicht Chance.“ Wenn Eltern diese Werte in sich tragen, ist es erstmal schwer einen anderen Weg zu gehen.
Wie kommt man nun weiter?
Im Roman trifft der Hauptprotagonist glücklicherweise auf Karl. Einem Lebenskünstler, der ein freies und sehr bodenständiges Leben mit seiner Frau und einigen Tieren inmitten und mit der Natur führt. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Aufzucht der Kartoffel. Noch erdverbundener kann es gar nicht sein, denn sie steht für Fruchtbarkeit und Wachstum und ist das Grundnahrungsmittel Nummer 1.
Schäfer beschreibt diese Einstellung seines Freundes Karl im Roman sehr treffend: „Ich wusste irgendwann, dass ich mich nicht überfordern wollte, dass ich mich auf das Wesentliche konzentrieren sollte, auf eine Sache, die mich wirklich interessiert, die mir Freunde macht und die ich verstehe. Eine Sache, die keinem Zeitgeist unterliegt, die nicht heute gewollt und morgen wieder weg ist, von der ich bescheiden, aber sicher leben kann. Tja, so kam ich auf die Kartoffel.“ Wunderbar diese Analyse!
Im „normalen“ Leben kann es eine Krankheit, der Tod eines wichtigen Menschen oder ein anderer Schicksalsschlag sein oder eben das bewusste Wahrnehmen der 25 letzten Sommer, die einem noch bleiben. Dann steht ein Aufrütteln im Raum, über die Zeit, die noch zur Verfügung steht. Dann ist Gelegenheit für einen Wandel.
Die richtigen Fragen stellen
Ich finde die Fragen, die Schäfer im Verlauf des Romans zur Reflexion anbietet, sehr anregend, um hier weiter zu kommen:
- Was ist dein größter Traum?
- Was hat Dich in der letzten Woche am meisten bewegt?
- Wodurch hast Du Deine Freude verloren?
- Aber auch: Und wie bist Du aus der Situation wieder herausgekommen?
- Welche Beziehung hast Du zu Büchern, Musik und alledem?
Sehr hilfreich sind auch die Fragen, die Schäfer nennt, wenn es gezielt um eine Lebensentscheidung oder Neuorientierung geht:
- Gibt es dir Liebe und Frieden?
- Gibt es dir Lebensfreude und Energie?
- Gibt es dir Freiheit und Selbstbestimmung?
- Gibt es Dir Ruhe und Halt?
Den Überblick behalten
Sei es nun durch das Buch, ein intensives Gespräch mit Freunden oder durch eine professionelle Begleitung, die eigene Richtung im Leben zu finden, ist immer wieder neu und von Lebensphase zu Lebensphase anders. Jeder Mensch ist mit neuen Herausforderungen in seinem Leben konfrontiert und aus meiner Sicht gibt es nicht die eine Lösung, sondern es baut aufeinander auf. Wichtig ist, das die Richtung stimmt!
Wenn ich Jugendliche begleite, dann geht es z.B. um die erste Orientierung im Beruf oder vielleicht auch erstmal um den Übergang von der Schulzeit zum Beruf. Oder: Erwachsen werden. Sind einige Berufsjahre vergangen, dann folgt eventuell eine Änderung der beruflichen Ausrichtung oder will ich Familie oder eben nicht? Dies ist z.B. eine ganz wesentliche Lebensfrage, die in meinen Begleitungen immer wieder auftaucht. Um einen Überblick über das bisherige eigene Leben zu bekommen, bietet sich auch gut die Lebensuhr an, die ich hier beschrieben habe.
Egal welcher Lebensabschnitt gerade ansteht, wichtig ist, die Endlichkeit des Lebens nicht aus den Augen zu verlieren. Hier ist für mich „25 letzte Sommer“ einfach ein inspirierendes Buch, das nicht durch Endzeitstimmung deutlich macht, welche Möglichkeiten in einem erfüllten Leben liegen.
Und so endet auch der Roman mit: „Als ich an Karls Feld vorbeikam, bemerkte ich, dass der Wind von hinten und nicht von vorne kam.“ Es bestehen noch viele Chancen aus dem Leben das Sahnehäubchen herauszuholen.
Und egal, welche Zahl der verbleibenden Sommer noch ansteht, die Frage, welche Träume und Wünsche einen – vielleicht auch ganz tief verborgen – bewegen, es lohnt erstens das Buch zu lesen und sich zweitens bewusst damit auseinanderzusetzen. Sonst – und da wären wir wieder am Anfang – verliert man den Blick dafür, was einem wirklich gut tut und was wesentlich ist!
Wer mehr aus „25 letzte Sommer“ lesen möchte:
Stephan Schäfer, Verlag: park x ullstein, 1. Auflage, 14. März 2024