
Was uns prägt und bindet
Glaubenssätze, Aufträge und Loyalität aus der Ursprungsfamilie – wie sie unser Leben beeinflussen
Mit großer Begeisterung habe ich das Buch „Das bleibt in der Familie“ von Sandra Konrad gelesen. Es zeigt eindrücklich, wie stark familiäre Aufträge, Loyalitäten und wiederholte Muster unser heutiges Leben beeinflussen. Diese Erkenntnisse decken sich vielfach mit meinen Erfahrungen aus der Beratungspraxis – besonders im Kontext der Lebensmitte, meinem Spezialgebiet. Denn in dieser Lebensphase wird uns oft die Endlichkeit des Lebens bewusster – und damit auch die Anteile, die bislang ungelebt geblieben sind.
Wünsche und Aufträge aus dem Familienclan
Familiäre Erwartungen beginnen häufig schon vor der Geburt. Oft wird ein bestimmtes Geschlecht erhofft – es soll „gut zur Familie passen“. Auch ich erinnere mich daran, mir damals – als ich ein Kind erwartete – ein Mädchen gewünscht zu haben. Vielleicht, weil ich unbewusst ein neues Leben mit meiner Tochter „nachholen“ wollte?
Doch was geschieht mit Kindern, die nicht dem Wunschbild entsprechen? Mädchen, die wie Söhne großgezogen werden oder Jungen, die eigentlich lieber anders sein dürften? Kinder richten sich nach den Erwartungen ihrer Eltern – aus Liebe und Abhängigkeit heraus.
Namensgebung als versteckter Auftrag
Auch ein Name kann schon einen stillen Auftrag in sich tragen – sei es nach einer verstorbenen Großmutter, einem nicht überlebten Geschwisterkind oder als Ausdruck einer bestimmten Ideologie. Ein Name wie „Maria“, „Adolf“, „Helene“ oder „Justin“ kann unbewusst Erwartungen transportieren: erfolgreich zu sein, wie das Vorbild – ob nun religiös, historisch oder populär.
Rollenverteilung im Familiensystem
Besonders Erstgeborene tragen häufig viel Verantwortung, vor allem dann, wenn die Eltern selbst instabil sind. Schon in jungen Jahren übernehmen sie Rollen, die eigentlich nicht zu ihnen gehören. In der Fachsprache spricht man von Parentifizierung – der Übernahme elterlicher oder gar partnerschaftlicher Aufgaben durch das Kind, um das Familiensystem aufrechtzuerhalten.
Diese Rollenzuschreibungen entstehen häufig in Familien mit suchtkranken oder depressiven Eltern. Selbst in der Pubertät gelingt es vielen dieser Kinder nicht, sich abzugrenzen oder zu rebellieren – denn sie werden gebraucht. Ich selbst habe das erlebt: Die Scheidung meiner Eltern fiel in meine Pubertät. Rückblickend wurde mir erst später bewusst, dass ich „funktioniert“ habe – rebellieren oder loslassen war nicht möglich.
Die „Retterrolle“ – Opfer im Familiensystem
Kinder, die früh lernen, andere zu versorgen, verlieren leicht den Zugang zu den eigenen Bedürfnissen. Die „Retterrolle“ verfolgt sie oft ein Leben lang. Uwe Böschemeyer bringt es auf den Punkt: „Die Schwachstelle des Retters ist die Selbstferne.“
Wer in seiner Ursprungsfamilie gelernt hat, sich selbst zurückzustellen, entwickelt häufig Bindungsmuster, die sich später in emotionaler Unterversorgung oder Rollenumkehr fortsetzen – oft unbewusst an die eigenen Kinder weitergegeben. In meiner Praxis habe ich das oft und das Bewusstwerden dieser Rolle ist dann der erste Entwicklungsschritt, um anderes zu werden.
Familiäre Aufträge – ausgesprochen oder still
Eltern geben nicht nur offene, sondern auch unausgesprochene Aufträge an ihre Kinder weiter. Diese können die Selbstentfaltung massiv einschränken – etwa wenn ein bestimmter Beruf erwartet wird, obwohl das Kind andere Begabungen hat. Oder wenn Kinder viele Nachkommen zeugen sollen, eine bestimmte Rollenverteilung einhalten oder ihre sexuelle Identität unterdrücken müssen.
Wer sich diesen Aufträgen fügt, weil sie dem eigenen Wesen entsprechen, hat Glück. Wer jedoch versucht, etwas zu erfüllen, das nicht zu ihm passt, wird leicht zum Opfer – unfähig, ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu führen.
Wenn Ablösung verhindert wird
Besonders tragisch wird es, wenn Kinder das Elternhaus nicht verlassen dürfen – nicht einmal räumlich. Sandra Konrad beschreibt dies mit dem Titel „Bis dass der Tod uns scheidet“. Manche Erwachsene können oder dürfen keine eigene Familie gründen, weil sie lebenslang an das Herkunftssystem gebunden bleiben.
Kinder, die im Familiensystem „stören“
Gegensätzlich zur klammernden Familie stehen Kinder, die früh erwachsen werden müssen – etwa wie Pippi Langstrumpf, die sich „die Welt macht, wie sie ihr gefällt“. Ihre Unabhängigkeit wirkt stark, ist aber oft ein Schutz vor früher Ohnmacht.
Ein düsteres Gegenbild ist Gregor Samsa aus Kafkas „Die Verwandlung“. Durch seine Verwandlung in einen Käfer wird er überflüssig, weil er in seiner Familie keinen Platz mehr hat.
Beide Figuren aus der Literatur stehen für Kinder, die emotional unterversorgt, aber materiell oft überversorgt sind. Sie lernen: Sei stark, funktioniere – aber störe nicht. Diese Muster prägen das Erwachsenenleben tief – verbunden mit einer ständigen Suche nach Liebe und Anerkennung.
Loyalität – ein unsichtbarer Vertrag
Loyalität ist die tiefe, oft unbewusste Bindung an das Familiensystem. Sie entsteht aus dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Besonders als Kind kann man nicht anders – man will dazugehören. Doch wenn Loyalität verhindert, ein eigenes Leben zu leben, wird sie zur Last.
Dann führen Kinder das ungelebte Leben der Eltern weiter – entweder aus Anpassung oder im Trotz. Doch auch das ist keine echte Ablösung. Interessant wird es, wenn zwei Familiensysteme – etwa durch eine Eheschließung – aufeinandertreffen. Welchen Namen trägt die neue Familie? Welche Rituale setzen sich durch? Ich erinnere mich gut, wie ich meinen Nachnamen bei der Familiengründung behalten wollte – ein Ausdruck meiner Herkunft und Identität.
Traumatisches Erbe – transgenerationale Weitergabe
Sandra Konrad beleuchtet auch, wie Traumata früherer Generationen weiterwirken – selbst dann, wenn sie nicht bewusst erinnert werden. Besonders die Erlebnisse der Kriegsgenerationen beeinflussen noch die Enkel – die sogenannten Kriegsenkel.
Ich selbst fühlte mich lange – unbewusst – mit dem Schicksal meiner verstorbenen Tante verbunden, die auf der Flucht aus Polen verloren ging. In einer Familienaufstellung wurde mir diese Verbindung klar, und ich konnte das Schicksal zurückgeben.
Schritte in ein selbstbestimmtes Leben
Egal wie Ihre Familiengeschichte aussieht – es lohnt sich, sie zu erforschen. Sandra Konrad bietet im letzten Kapitel ihres Buches hilfreiche Reflexionsfragen an, um die eigene Prägung zu erkennen:
Welche Brüche gab es im Leben?
Welche Schicksale haben Eltern und Großeltern erlebt?
Welche Werte wurden vermittelt – und welche Konflikte oder Traumata?
Wem fühle ich mich verbunden?
Die eigene Geschichte zu verstehen, ist der erste Schritt, um sie neu zu schreiben. Nicht, indem man sie leugnet – sondern indem man sie bewusst annimmt. Dabei lassen sich nicht nur Belastungen erkennen, sondern auch Ressourcen entdecken: Überlebensstrategien, Stärken und Werte, die weiterhelfen.

Mein Fazit:
Für mich – und für viele meiner Klientinnen und Klienten – ist es heilsam, sich mit dem eigenen Familiensystem auseinanderzusetzen. Nur so lässt sich erkennen, was wir mitnehmen wollen – und was wir getrost loslassen dürfen. Damit man – und nicht nur in der Lebensmitte – selbst bestimmt und bewusst den eigenen Weg weitergehen kann.
Zum Weiterlesen:
Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie. Von Liebe Loyalität und uralten Lasten. September 2014. ISBN 978-3-492-30530-3, € 9,99 im Piper Verlag erschienen
