Übertragen Sie gerade Ihre Vergangenheit in die Gegenwart?
Wie wir immer wieder in gleiche Fallen tappen können – oder eben nicht
Stellen Sie sich vor, Sie sind im Büro oder in einer anderen Begegnung und Sie haben das Gefühl, im Kontakt mit einer speziellen Person rutschen Sie in ganz seltsame Verhaltensweisen ab. Sie fangen an, sich zu verbiegen und benehmen sich so, wie Sie sich gar nicht verhalten wollen. Aber ein Augenaufschlag, ein Lächeln oder ein schiefer, vielleicht auch strenger Blick von Ihrem Gegenüber führt dazu, dass Sie in ein Verhalten abgleiten, dass eigentlich befremdlich ist und vor allem nicht zur Situation passt.
Was ist hier passiert?
Kürzlich kam ein sehr sympathischer junger Mann in meine Beratung, der sich als sehr aufgeräumt beschreibt und im Kontakt mit anderen Menschen wenig Probleme hat. Einfach, weil er wenig Konflikte im normalen Leben hervorruft und auch gut mit vielerlei Menschentypen umgehen kann. Aber trotzdem! Mit einer speziellen Person hat er ein echtes Problem, weil er sich nicht normal zeigen kann, so fasst er es zusammen. Deshalb kam er zu mir, um dieses besondere Thema zu lösen. Diese Person, die ihn besonders herausfordert, hat etwas mit Übertragung zu tun. In der Lebensgeschichte meines Klienten gibt es einige berührende Einzelheiten, die dazu geführt haben, dass genau im Kontakt mit dieser besonderen Person Anteile bei ihm geweckt werden, die ihn an sich als Kind erinnern. Meistens ist es bei einer Übertragung so, dass man in ein jüngeres Ich zurückrutscht – ausgelöst durch eine Gestik oder Mimik im Gegenüber.
Bei der Übertragung werden alte – oftmals verdrängte – Gefühle, Affekte, Erwartungen (insbesondere Rollenerwartungen), Wünsche und Befürchtungen aus der Kindheit unbewusst auf neue soziale Beziehungen übertragen und reaktiviert. Und hier liegt die Krux! Wenn man sich früher gegen diese Personen nicht gut abgrenzen oder behaupten konnte – und wer kann das als Kind schon immer – dann kann das in der Gegenwart zu einigen Schwierigkeiten führen. Eine gute Frage, die hier immer etwas Licht in die Dunkelheit bringt, ist: Wie alt sind Sie (heute) im Kontakt mit dieser Person?
Wenn heute diese „ähnliche“ Person z.B. eine Mitarbeiterin ist, dann sollte das Kräfteverhältnis so sein, dass mein Klient z.B. Aufgaben an sie delegieren kann. Wenn das Gegenüber ihn allerdings mit einer bestimmten Gestik zum Verstummen bringt, dann ist man quasi handlungsunfähig. Denn eigentlich geht es nicht um ein Problem in der Gegenwart, sondern um die Wiederholung einer unverarbeiteten Geschichte, die nicht selten einen traumatischen Charakter hat. Die Beziehung und das Verhalten sind dann nicht so, wie es in der Gegenwart angemessen wäre – sondern genauso, wie man es in der Vergangenheit erlebt hat. Hier liegt etwas ungelöstes, was es zu lösen gilt, um die Gegenwart neu zu erleben. Oft weiß man selbst nicht, wie man in diese „Falle“ hineingeraten ist und wundert sich nur über die eigene Handlungsunfähigkeit. Und da liegt genau die Lösung: Wie kann ich in der Gegenwart ein neues Verhalten zeigen, dass anders ist als das, was ich in der Vergangenheit angewandt habe?
Die Lösungsansätze:
- Wo liegt die Ursache, dass ich in diese Situation geraten bin?
- Wie komme ich zu meiner Handlungsfähigkeit als erwachsene und reife Persönlichkeit?
- Wie komme ich zu einer passenden Beziehung mit der Person in der Gegenwart?
Wie geht es gut weiter?
- Es hilft nicht, nur in der Gegenwart zu bleiben. Deshalb fragte ich meinen Klienten auch, an wen ihn diese Person aus seiner eigenen Geschichte erinnern könnte? Denn: „Die Vergangenheit spielt eine wesentliche Rolle in unserem Leben, ob wir uns dessen bewusst sind, oder nicht,“ so beschreibt es Peter Levine, der Begründer von Somatic Experience(SE)® in einem Video. Die Antwort kommt dann meist sehr schnell, denn die Erlebnisse sind so prägend gewesen, dass sie genau deshalb in der Gegenwart eine große Wirkung haben.
- Ich lasse mir auch genauer beschreiben, welche Erfahrungen damals genau gesammelt wurden und auch, welche körperlichen Reaktionen sichtbar wurden. Mein Klient sagte z.B., dass er in der prägenden Zeit sogar mehrmals in Ohnmacht gefallen ist, weil ihn die damalige Bezugsperson so stark gefordert hat. „Ich will niemals mehr so die Kontrolle verlieren, dass mir das wieder passieren könnte“, so ergänzt er. Das ist natürlich prägend für die Gegenwart.
- Neben den Erfahrungen der Vergangenheit geht es im dritten Schritt um die Stabilisierung – und hier vor allem körperlich – d.h. wie gelingt es meinem Klienten, sich in der Gegenwart sicher und orientiert zu verhalten? Dazu braucht es etwas Übung und auch ein Ausprobieren von verschiedenen körperlichen und szenischen Sequenzen, um in guten Kontakt mit dieser Mitarbeiterin und damit auch mit der Gegenwart zu kommen.
Der Ablauf ist hier verkürzt dargestellt. Wir haben einige Male an verschiedenen Themen zu dieser Übertragungssituation gearbeitet. Von der Erkenntnis, wo sie entstanden ist bis zur heutigen Situation. Meistens handelt es sich um prägende Bindungserfahrungen, die nicht so einfach aufzulösen sind und es liegt immer in der Entscheidung der Klienten, wie intensiv der eigene Weg sein soll. Letztendlich geht es um die Erfahrung sich ein neues Verhalten anzueignen, um aus der Übertragung herauszuwachsen. Es ist ein Stück Freiheit, was man letztlich dadurch erarbeitet. Ein Schritt heraus aus Erfahrungen, die schmerzhaft waren und aufgelöst werden können, auch wenn sie lange zurückliegen – wenn man sich ihnen stellt! Hinzu kommt, dass man ganz anders in Beziehungen treten kann. Dafür lohnt es sich auf jeden Fall, die Übertragung hinter sich zu lassen…
Ein paar gute Quellen zum Vertiefen:
Ein aufklärendes Video gibt einen guten Überblick zum Thema Übertragung: https://www.youtube.com/watch?v=kBdjQjvWrI0
Oder wie das Gedächtnis und die Erinnerung unsere Identität formen beschreibt Peter Levine in diesem Video: Peter Levine, developer of Somatic Experiencing, talks about memory – YouTube