Lebensthemen

Kriegsenkel in der Lebensmitte: warum uns Verstehen helfen kann

„Wir sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt,“ so beschreibt Bettina Alberti es in ihrem Buch Seelische Trümmer. Die Elterngeneration, also die Kriegskinder, waren mit dem Wegräumen von zerstörten Gebäuden, meist mit den bloßen Händen, beschäftigt. Es gab damals keine Zeit für die Seele. Das ist jetzt die Aufgabe der Vierzig- bis Sechzigjährigen Deutschen in der Lebensmitte.

Krieg bedeutet Traumatisierung

Kriege und ihre Auswirkungen sind für diejenigen, die sie direkt erleben, die Erfahrung des größtmöglichen Traumas, das es gibt. Für die nächste Generation ist es die unverarbeitete Weitergabe von Verlust, Beschämung und seelischer Entwurzelung. Da die Deutschen als die  Kriegsverbrecher überhaupt gebrandmarkt wurden, folgt daraus eine kollektive Schuld. Hinzu kommt eine weitere Folge des Zweiten Weltkriegs: die Teilung Deutschland. Auch hier wird die Generation der Lebensmittigen noch einige Zeit brauchen, bis der innerseelische „Krieg“ beendet ist. Denn eigentlich könnten wir angesichts des Wohlstandes, der Sicherheit und vielem mehr, glücklich sein, dennoch ist das bei vielen nicht so.

Die Weitergabe von Generation zu Generation

Mittlerweile haben sich einige Autorinnen wie Sabine Bode, Anne-Ev Ustorf sowie die Forschung etwa unter Professor Hartmut Radebold mit der generationsübergreifenden Weitergabe aus kriegsbelasteten Familien auseinandergesetzt. Kongresse, wie beispielsweise im Juni 2014 an der Mainzer Uni „Kriegserlebnisse und ihre Auswirkungen bis heute“ machen deutlich, dass viele Dinge, die heute in unserer Midlife-Generation so einfach sein könnten, irgendwie belastet wirken. Uns geht es im Vergleich zu dieser Kriegsgeneration phantastisch gut. Dennoch zeigt sich bei vielen Menschen ein diffuses, manchmal depressives Lebensgrundgefühl, eine tief empfundene Einsamkeit und immer wieder die Unsicherheit darüber, man selbst sein zu dürfen oder die Angst vor Gefühlen.

In vielen Familien wirkt der Dialog über die familiäre Vergangenheit diffus oder ist verstummt, d.h. entweder erzählen die Eltern über diese Zeit immer wieder das Gleiche oder eben gar nichts.

Fertigt man einen Familienstammbaum an, wird fast in allen Familien deutlich, dass Familienangehörige den Krieg nicht überlebt haben. Manchmal fehlen auch grundsätzlich wichtige Informationen. Die Last bzw. die Traumatisierung der Elterngeneration wird an die Kriegsenkel weitergeben. Das ist zwischenzeitlich bewiesen.

Traumaforschung gibt Klarheit

Erst in den 1980er Jahren begann die Traumaforschung,  also die Erforschung der Auswirkungen von überfordernden seelischen Belastungen auf das Bewusstsein. Und das ist Krieg allemal. Krieg ist ein von Menschen produziertes Katastrophenszenario, was die Auswirkungen im Gegensatz zu Naturgewalten oder Unfällen deutlich schlimmer macht.

Die Situationen, denen unsere Eltern im Krieg ausgesetzt waren, wirkten nach Hartmut Rabold bei sechzig Prozent der Bevölkerung schwer bis mitteltraumatisch. Unsere Eltern hatten in der Kriegszeit oftmals keine sicheren Bindungen an ihre Eltern, um das eigen erfahrene Stresserleben zu verarbeiten und diese Generation hat mit dieser Bindungserfahrung unsere Generation geprägt.

Bombenangriffe, Vernichtung, Hunger, Tod von Angehörigen und bedrohliche Trennungen, wie z.B. die praktizierten „Kinderlandverschickungen“, mit denen Kinder aus bedrohten Städten längerfristig in weniger gefährdete Gebiete gebracht wurden. Meist waren sie bis zu achtzehn Monaten von ihren Eltern getrennt.

Die Erziehung dieser Generation erfolgte mit Hilfe von Büchern, die nationalsozialistisches Gedankengut enthielten (Johanna Haarer, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind), die bis Mitte der 1980er-Jahre aufgelegt wurden. Diese Ratgeber boten eine Orientierung für teilweise überforderte Eltern, die selbst keine Vorbilder aus ihrer Erziehungszeit gehabt hatten, denn der erste Weltkrieg hatte ja ähnliche Spuren hinterlassen.

Die Generation der Kriegskinder konnte nur durch Verdrängung, Verleugnung und emotionalen Rückzug ihre Traumata abwehren, denn sie hatten in dieser Zeit und auch danach keine Möglichkeit zur Aufarbeitung.

Was bedeutet das für uns?

Menschen, die unter den oben beschriebenen Erfahrungen aufgewachsen sind, können zum großen Teil nur Bindungen weitergeben, die eine grundsätzliche Unsicherheit hinterlassen. Da sie selbst keine sichere Bindung erfahren haben, können sie auch kein Selbstvertrauen, Vertrauen in andere und inneren Frieden weitergeben. Probleme hinsichtlich Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und einer grundsätzlichen inneren Spannung (Verlorenheitsangst) sind hier vorprogrammiert.

In der Nachkriegszeit entwickelte sich zudem ein starker Fokus auf materielle Dinge, um die innere Leere aufzufüllen. Konsum und Geldfixierung sowie eine hohe Medienfrequentierung sind zur Ersatzbefriedigung geworden. Anne Wilson Schaef spricht vom Zeitalter der Sucht, da der emotionale Halt fehlt und die Sehnsüchte erfüllt werden müssen. Der Umgang mit den eigenen Gefühlen ist eine schwierige Aufgabe, weil viele dies nicht gelernt haben.

„Wir müssen funktionieren“, ist ein anderes  Ergebnis der Weitergabe der Kriegskinder an die Kriegsenkel. Kontrolle, Gewalt oder Gewaltandrohung waren die Erziehungsgrundlagen in den 1950er und 60er-Jahren. Das ist verständlich, wenn man sich die Geschichte der Elterngeneration vor Augen führt: Zum Beispiel Zwölfjährige, die zu Fuß monatelang im Kriegswinter aus Ostpreußen fliehen mussten und viele andere solcher Erlebnisse mehr.

Was hilft uns jetzt?

Kurz: Frieden mit der familiären Vergangenheit schließen, heißt letztlich Frieden mit sich selbst. Eine wichtige Aufgabe der in den 1950er und 60er-Jahren Geborenen ist es, die kriegsbelastete Bindung zu den Eltern zu verstehen. Unbewusst übernimmt die Folgegeneration, also wir, die Funktion, Teile der Familienvergangenheit zu verarbeiten. Und hier liegt auch der Schlüssel zum Verstehen eigener Probleme, mit denen wir uns heute auseinandersetzen.

Wo kommen Symptome wie Ängste, Depressionen und Selbstwertprobleme her? Eigentlich ist doch alles gut! Es geht darum, auf die Suche zu gehen. Auf die Suche nach den verborgenen Geheimnissen zwischen den Generationen, denn letztlich geht es darum, auch die eigenen Kinder, die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, davor zu schützen, die unbewussten Aufträge von Eltern und Großeltern zu lösen. Dabei können wir ihnen helfen, indem wir uns selbst mit uns auseinandersetzen.

Was können also sinnvolle Lösungen sein?

Im Wesentlichen geht es darum, Verstrickungen zu lösen und das bedeutet:

  • Sich aktiv für die Familiengeschichte zu interessieren
  • Die seelischen Verletzungen der Elterngeneration wahrzunehmen, aber nicht zu versuchen, sie zu heilen
  • Bindende Familienaufträge zu erkennen, aber sie nicht anzunehmen
  • Gefährtinnen und Gefährten zu suchen, um mit ihnen zu den Themen in Austausch zu gehen und Heilungsräume zu finden
  • Kollektive Schuldgefühle in diesem Zusammenhang zu verstehen und richtig einzuordnen

Diese Schritte helfen letztlich allen: den Kriegskindern, den Kriegsenkeln und den Kriegsurenkeln, um wieder Stolz und Selbstbewusstsein für ein schönes Leben zu entwickeln.

Tipps zum Weiterlesen:
Bettina Alberti: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas
(Anmerkung: sehr gute psychologische Betrachtung)
Sabine Bode:  
Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation
Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Nachkriegskinder: Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter
(Anmerkung: alle Bücher von Sabine Bode sind sehr packend zu lesen)
Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder: Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs

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