Lebensthemen

Kriegsenkel in der Lebensmitte: warum uns Verstehen helfen kann

Seelische Trümmer – Eine Generation räumt auf

Wir sind damit beschäftigt, die seelischen Trümmer aufzuräumen“, beschreibt Bettina Alberti in ihrem Buch Seelische Trümmer.

Während die Elterngeneration – die sogenannten Kriegskinder – nach dem Zweiten Weltkrieg mit bloßen Händen Trümmer aus Stein beseitigte, blieb für die Aufarbeitung seelischer Verletzungen damals kein Raum. Diese Aufgabe fällt heute den Vierzig- bis Sechzigjährigen zu – der Generation in der Lebensmitte oder die Babyboomer.

Krieg hinterlässt tiefe seelische Spuren

Für jene, die Krieg unmittelbar erleben, bedeutet er das größte vorstellbare Trauma. Die nachfolgende Generation trägt die Folgen weiter:

  • unverarbeitete Verlusterfahrungen,
  • Scham und Schuld,
  • emotionale oder räumliche Entwurzelung und vieles mehr…

In Deutschland kommt eine kollektive Schuld hinzu – als Folge der NS-Verbrechen – sowie die politische und seelische Teilung des Landes. Auch diese Spaltung wirkt in vielen Seelen bis heute fort. Und das, obwohl wir heute in Sicherheit und Wohlstand leben. Doch das Gefühl, „eigentlich müsste ich glücklich sein“, trifft auf eine innere Leere.

Transgenerationale Weitergabe von Trauma

Autorinnen wie Sabine Bode, Anne-Ev Ustorf und Forscher wie Professor Hartmut Radebold beschäftigen sich mit der Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg. Kongresse wie „Kriegserlebnisse und ihre Auswirkungen bis heute“ an der Universität Mainz (2014) zeigen: Vieles, was für die „Midlife-Generation“ heute leicht sein könnte, wirkt belastet. Äußerlich geht es uns gut, doch innerlich kämpfen viele mit depressiven Verstimmungen, tiefer Einsamkeit und der Angst, sich selbst zeigen zu dürfen. Hinzu kommen viele Bindungstraumata.

In vielen Familien fehlt ein offener Dialog über die Vergangenheit. Entweder wird immer wieder dieselbe Geschichte erzählt – oder gar nichts.

Ein Blick in die Familienchronik offenbart oft schmerzhafte Lücken: Gefallene Angehörige, verschwiegene Schicksale, fehlende Informationen. Die Last des Krieges wurde weitergegeben – das belegen inzwischen zahlreiche Studien.

Traumaforschung bringt Klarheit

Erst in den 1980er-Jahren begann die systematische Erforschung psychischer Traumata. Kriege gelten dabei als besonders zerstörerisch – nicht nur durch ihr Ausmaß, sondern weil sie menschengemacht sind. Laut Hartmut Radebold erlebten rund sechzig Prozent der deutschen Bevölkerung während des Krieges schwere bis mittlere Traumatisierungen.

Erinnerungen die bleiben
Ein Rückblick, der heilsam sein kann.

Oft fehlten unseren Eltern sichere Bindungen – sie selbst waren vielfach Bindungsverlust, Bombenangriffen, Hunger, dem Tod nahestehender Menschen und schmerzhaften Trennungen ausgesetzt, wie bei den „Kinderlandverschickungen“, die Kinder monatelang von ihren Eltern trennten.

Hinzu kam eine autoritäre Erziehung, geprägt durch Bücher wie Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer, die nationalsozialistisches Gedankengut weitervermittelten – bis in die 1980er-Jahre hinein.

Viele Eltern dieser Generation hatten selbst keine emotionalen und sicheren Vorbilder und mussten ihre eigenen Traumata durch Verdrängung, Rückzug und Abwehr bewältigen.

Was bedeutet das für uns heute?

Wer in einer solch belasteten Atmosphäre aufwächst, entwickelt oft eine unsichere Bindung, was wiederum Vertrauen, Selbstwert und emotionale Sicherheit beeinträchtigt. Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und innere Ruhe werden zu lebenslangen Themen.

In der Nachkriegszeit entstand zudem ein starker Fokus auf materiellen Wohlstand – als Versuch, innere Leere zu kompensieren. Konsum, Medien und äußere Erfolge wurden zu Ersatzbefriedigungen. Die amerikanische Autorin Anne Wilson Schaef spricht daher vom „Zeitalter der Sucht“: Wo emotionale Stabilität fehlt, wachsen Sehn-süchte.

„Wir müssen funktionieren“ – dieses Credo wurde von den Kriegskindern an die nachfolgende Generation weitergegeben. Die Erziehung der 1950er- und 60er-Jahre war häufig geprägt von Kontrolle, Härte und emotionaler Distanz. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Kinder einst monatelang im Kriegswinter zu Fuß aus Ostpreußen fliehen mussten.

Was hilft uns jetzt?

Frieden mit der Vergangenheit zu schließen bedeutet letztlich, Frieden mit sich selbst zu finden. Eine zentrale Aufgabe der heute Vierzig- bis Sechzigjährigen ist es, die kriegsbelastete Bindung zu ihren Eltern zu verstehen. Unbewusst übernehmen wir den Auftrag, familiäre Geschichte aufzuarbeiten – darin liegt auch der Schlüssel zu vielen unserer heutigen Herausforderungen. Und die Chance auf Heilung.

Ängste, Depressionen, Selbstwertprobleme – all das kommt nicht „von ungefähr“. Es lohnt sich, auf Spurensuche zu gehen. Denn wer die verborgenen Familiendynamiken erkennt, kann verhindern, dass diese Last weitergegeben wird – etwa an unsere Kinder und Enkel.

Was können wir konkret tun?

Sinnvolle Schritte zur Heilung können sein:

  • Die eigene Familiengeschichte erforschen, um Verständnis zu entwickeln

  • Die seelischen Wunden der Elterngeneration anerkennen, ohne sie selbst tragen zu wollen

  • Familiäre Aufträge erkennen und bewusst ablehnen, wenn sie nicht dem eigenen Leben dienen

  • Austausch mit Gleichgesinnten suchen, um gemeinsame Heilungsräume zu schaffen

  • Kollektive Schuldgefühle verstehen und einordnen, ohne sich davon definieren zu lassen

Diese Schritte helfen nicht nur uns selbst – sie entlasten auch die Generation der Kriegskinder und legen den Grundstein für mehr Selbstbewusstsein, Lebensfreude und seelische Freiheit bei den Kriegsenkeln und -urenkeln.

Tipps zum Weiterlesen:
Bettina Alberti: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas
(Anmerkung: sehr gute psychologische Betrachtung)
Sabine Bode:  
Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation
Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Nachkriegskinder: Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter
(Anmerkung: alle Bücher von Sabine Bode sind sehr packend zu lesen)
Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder: Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs

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