
Es ist nie zu spät – eine glückliche Kindheit zu haben
Und wie uns dabei Ressourcenfocus und Perspektivwechsel helfen können!
In der öffentlichen Wahrnehmung hält sich hartnäckig ein Mythos: Wer eine schwierige Kindheit hatte, ist zwangsläufig im Erwachsenenleben belastet, leidet dauerhaft unter den Schatten der Vergangenheit und ist emotional verwundet.
Ben Furmann stellt in seinem Buch „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“, diese weit verbreitete Vorstellung infrage – nicht, indem er die Realität verdrängt, sondern indem er ihr Tiefe, Differenzierung und Hoffnung hinzufügt.
Als Heilpraktikerin für Psychotherapie und Begleiterin von Menschen mit belastenden Kindheits- und Jugenderfahrungen erlebe ich oft, wie wichtig es ist, die Vergangenheit anzuerkennen – keine Frage. Hier braucht es erstmal viel Würdigung! Würdigung für die Kraft, mit diesen Erfahrung gelebt und teilweise sogar überlebt zu haben.
Es ist aber auch heilsam, eine neue Perspektive auf sie zu entwickeln. Vor allem dann, wenn wir nicht nur auf das schauen, was gefehlt hat, sondern auch auf das, was trotz allem da war. ✨️
Die Kraft der anderen Erzählung
Furmann lädt dazu ein, die eigene Kindheit differenziert zu betrachten. Auch wenn sie auf den ersten Blick von Schmerz, vielerlei Mangel oder vielleicht auch Missbrauch geprägt war – oft gab es auch Momente der Geborgenheit, Menschen, die Halt gaben, oder innere und äußere Ressourcen, die uns über Wasser hielten.
Welche guten Erinnerungen gibt es?

Ganz häufig gab es liebevolle Großmütter oder Großväter, die empathisch und herzlich für kleine und große Nöte zur Seite standen.
Eine Klientin benannte ihre Großtante, die fast ein Mutterersatz für sie in schweren Zeiten war. Diese war aufgeschlossen und modern und vor allem nicht urteilend, sondern hörte ihrer Nichte immer zu und spendete Trost, wenn in der Familie wieder mal viel Unruhe herrschte.
Oder ein verständnisvoller Lehrer, der das Potential erkannt hat, dass in einem schlummerte. Aber auch kreative Spiele, Musik (selbst gespielt oder gehört) oder die Bücherwelt – nicht zu vergessen.
Und ganz wichtig: das Gefühl von Freiheit und Verbundenheit draußen in der Natur. Auch Aktivitäten in Gruppen, wie eine Jugendclique oder ein wichtiger Freund aus Kindertagen. Nicht zu vergessen sind spirituelle Erfahrungen, die man gemacht hat und natürlich Haustiere, die Nähe und Sicherheit gegeben haben. Aber auch Geschwister, die zusammen hielten, wenn das Familiensystem bröckelte…
Diese Erfahrungen haben überlebt – in unserem Körper, in unserer Erinnerung, in unserem Nervensystem. Manchmal muss man sie wieder rauslocken…
In der körperorientierten Traumatherapie (Somatic Experiencing) nach Peter Levine geht es genau darum, diese oft übersehenen, aber enorm bedeutsamen Ressourcen wieder spürbar zu machen. Der Körper erinnert sich nicht nur an das, was schmerzhaft war – er trägt auch die Spuren von Resilienz, von Überlebenskraft, von Momenten der Selbstwirksamkeit und vor allem Sicherheit.
Diese positiven Erfahrungen wieder zu entdecken, körperlich zu erspüren, kann als Motor für Veränderung im jetzigen Leben dienen. Sie sind eine wahre Kraftquelle für jetzt und die Zukunft, um wieder Mut zu schöpfen.
Nicht beschönigen, sondern würdigen
Es geht nicht darum, sich die Vergangenheit schönzureden oder so zu tun, als wäre alles halb so schlimm gewesen. Schmerz will anerkannt werden. Und doch steckt in der differenzierten Betrachtung eine große Würde: Wir würdigen nicht nur das, was uns verletzt hat, sondern auch das, was uns geholfen hat zu überleben – und manchmal sogar zu wachsen. Auf das kann man auch stolz sein! 🔅
Furmann zeigt anhand vieler Stimmen von Betroffenen, dass ein gelingendes Leben nicht trotz, sondern auch wegen der Herausforderungen möglich ist. Aus einem schwierigen Start kann eine besondere Tiefe entstehen, ein feines Gespür für sich selbst und andere. Oder eine kreative Kraft, wie Malen oder Schreiben, aber auch der Wunsch, etwas Sinnvolles in die Welt zu bringen. Hier liegt oft ein echter Schatz verborgen, den es zu entdecken gilt.
Die innere Stimme als Wegweiser
Ein zentrales Anliegen des Buches ist es, Mut zu machen: Mut, auf die eigene innere Stimme zu hören. Viele Menschen wissen – oft intuitiv –, was sie brauchen, um heilen zu können. Vielleicht ist es ein sicherer Raum – wie eine Therapie – um sich endlich zeigen zu dürfen. Vielleicht ist es Bewegung, Kunst oder die Stille. Vielleicht ist es die Entscheidung, Verantwortung für das eigene Leben und den eigenen Weg zu übernehmen, ohne sich selbst weiter zu verurteilen.
Es gilt auch, alte Glaubenssätze und Überlebensstrategien, die damals wichtig zum Überleben waren, zu hinterfragen.
Gut ist es dann, nicht nur über den Verstand, sondern über das Spüren auf Entdeckungsreise zu gehen. Nicht über das Analysieren, sondern über das Wiederentdecken von Sicherheit und Verbindung – im Hier und Jetzt. Hier kann der Körper als wichtige Ressource dienen, denn in der körperlichen Wahrnehmung erspüren wir oft das Wesentliche.
Fazit: Ein neues Narrativ finden
Die Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen. Aber wir können lernen, sie anders zu tragen. Nicht nur Opfer, sondern auch Gestalter:innen der Geschichte sein.
Die Stimmen in Furmanns Buch zeigen: Ein schwerer Anfang bedeutet nicht zwangsläufig ein dauerhaft schweres Leben. Es gibt immer die Möglichkeit, sich neu zu orientieren, neue Spuren zu legen – im Denken, im Fühlen und vor allem im Körper.
Und manchmal beginnt dieser Weg mit einer einfachen Frage:
💡 Was in mir weiß, was gut für mich wäre – wenn ich mir wirklich zuhöre?
