Loslassen: (k)eine einfache Übung – der Vorruhestand kommt!
Alle Menschen lassen ein wenig von sich selbst zurück, wenn sie weggehen.
David Rochford
Loslassen ist ein Wort, dass erstmal einfach klingt, aber in Situationen, wie z.B. der Übergang in eine neue Lebensphase, kann dies auch herausfordernd und beunruhigend sein. Warum das so ist, berichte ich aus eigener Erfahrung, denn ich gehe in den Vorruhestand. Ergänzt wird das durch Beratungsbeispiele, die ich in meiner Praxis erlebe und begleite. In diesem Blogartikel biete ich 6 Anregungen, wie der Start in diese Lebensphase gut gelingen kann.
Nicht zuletzt beschreibt Romano Guardini, Religionsphilosoph und Theologe, den Abschied aus dem offiziellen Berufsleben als die „Krise der Loslösung“, bei der man mit vielen einzelnen (seelischen) Vorgängen konfrontiert wird. Er hat bereits 1950 kurz und zutreffend typische Herausforderungen und Probleme der verschiedenen Lebensabschnitte beschrieben. Die finde ich sehr passend für die heutige Zeit.
1. Wer bin ich jenseits meiner Arbeit?
Am 1. September 2023 beginnt in meinem Leben ein ganz neuer Abschnitt. 22 Jahre und 2 Monate war ich in einer Firma angestellt und bin nun aus freien Stücken in den „Vorruhestand“ gewechselt. So lange war ich dort verbunden, habe viel gelernt, mit gestaltet und manchmal war ich auch enttäuscht über Änderungen oder Dinge, die passiert sind. All das gehört dazu. Und nun ist Schluss! Ich komme nach insgesamt über 40 Jahren Angestelltendasein in eine neue Lebensphase.
Wer bin ich jenseits meiner Arbeit? Diese Frage bewegt viele Menschen, wenn sie in diese Phase des Lebens wechseln. Auch wenn sie es nicht so deutlich ausdrücken können. So habe ich z. B. eine sehr engagierte Leiterin einer Kindertagesstätte über ein Jahr begleitet, weil sie wusste, wie schwer ihr dieser Schritt fallen würde. Es war ein intensiver Prozess, indem deutlich wurde, es ist nicht nur das Ende der offiziellen Berufstätigkeit – es ist viel mehr. Hier habe ich ihre ganz persönliche Reise beschrieben.
In der Beschreibung gibt es viele Anregungen, die mir selbst auch geholfen haben bei meiner eigenen Reflexion, denn nun bin ich selbst an der Reihe.
2. Generationswechsel: Babyboomer verlassen die Unternehmen
Ich bin eine waschechte Babyboomerin, d.h. geboren in den geburtenstärksten Jahrgängen nach dem 2. Weltkrieg (1955-1964). Die Babyboomer gehen nun sukzessive aus ihren Hauptjobs, verlassen nach sehr langer Betriebszugehörigkeit die Unternehmen, denen sie lange verbunden waren. Teilweise gibt es Menschen dieser Generation, die in keinem anderen Unternehmen gearbeitet haben. Und nun?
Unternehmen, die sich in den letzten Jahren durch die Digitalisierung und Corona gravierend verändert haben. Schöne neue Arbeitswelt oder New Work habe ich selbst sehr intensiv erlebt und mich damit auch arrangiert. Auch wenn es mir zunehmend schwerer gefallen ist.
Warum? Weil ich Dinge, die für mich meine Arbeitswelt der letzten Jahrzehnte repräsentieren, immer weniger erlebe und auch vermisse. Das intensive Miteinander, sich wirklich vor Ort zu sehen und im persönlichen Austausch zu sein. Das wird deutlich weniger – aber das ist ein anderes Thema. Nun bin ich ja mit was ganz anderem konfrontiert! Raus aus dem Job, weil ein Generationswechsel stattfindet.
Das ist auch gut so und dazu gehört die Akzeptanz, dass sich die Dinge verändern. Guardini beschreibt es wieder sehr treffend: „Besonders wichtig: die Überwindung des Neides gegen die Jungen… des Ressentiments gegen das geschichtlich Neue… der Schadenfreude über die Mängel und das Mißlingen des Aktuellen…“
3. Abschied nehmen: wie will ich gehen?
Ich habe mich intensiv damit auseinandergesetzt, wie ich mich verabschieden möchte. Leise und still – im Sinne von, es soll fast keiner merken, dass ich gehe… Ein paar Gespräche führen und dann weg? Das kann auch eine Lösung sein, wenn man „kein Aufhebens“ machen will und vielleicht auch mit einem eher schlechten Gefühl geht.
Nun habe ich mich für eine andere Version entschieden, weil ich mit viel Wertschätzung zurückblicke. Ich habe nämlich alle Menschen eingeladen, mit denen mich in der langen Zeit eine Art Geschichte verbindet. Ich wollte sie noch einmal alle sehen und habe mir zu jeder/m Gedanken gemacht, was wir gemeinsam gewuppt haben und wo ich Erinnerungen habe, die meinen langen Weg in kleine Abschnitte teilt. Diese habe ich in einer Rede mit allen geteilt. Das war für mich der richtige Weg und es war ein kleines Fest. Ein schönes, denn diese lange Zeit möchte ich mit einer Dankbarkeit begegnen – für mich selbst und alle, denen ich dort im Unternehmen oft und gerne begegnet bin.
Das Abschied nehmen ist ein Teil des Loslassens und sollte so sein, dass es für einen passt. Es kann eine schöne Erinnerung für den Übergang sein, in eine neue Phase, ein Sprungbrett sozusagen… Dazu gehört aus meiner Sicht, ein gutes Abschieds-Ritual zu finden, um sich auch selbst wertzuschätzen für das, was man geleistet hat.
4. Neue Orientierung finden
Ich habe mich persönlich schon länger innerlich darauf vorbereitet. Aber, wie alles, was wir nicht selbst erleben und zwar am eigenen Körper, ist es letztlich nur eine theoretische Vorbereitung. So wie das Eltern werden, in den Beruf starten oder zuvor die Pubertät durchleben – eigentlich jede neue Lebensphase, die wir erfahren.
Es bedeutet, dass man mit Ängsten, Verlustgefühlen, Wut oder vielem mehr konfrontiert ist. Diese Gefühle durchzuleben ist für mich ein Teil der Transformation. Alleine – oder auch in professioneller Begleitung. Es hilft beim Loslassen. Wirklich!
Ich habe außerdem vor langer Zeit schon Dinge entdeckt, die mir jenseits der Arbeit Freude bringen und mich lebendig sein lassen. Und das war eine gute Vorbereitung, denn jetzt gilt es, eine neue Identität zu entwickeln – jenseits meines Angestelltendaseins oder der Berufstätigkeit. Sonst passiert es, wie es mir Menschen mitteilten, dass sie in ein Loch fallen, weil man nicht weiß, wie die endlosen Tage gefüllt werden sollen. Das haben wir nicht gelernt, weil durch die vollen Arbeitstage dafür keine Zeit war.
Einen Klienten hatte ich vor längerer Zeit dabei begleitet, eine neue Perspektive zu entwickeln, die ihm geholfen hat, das eigene Spektrum deutlich zu erweitern und eine neue Orientierung zu finden. Denn darum geht es: welche Interessen und Ideen haben ich jenseits meiner Berufstätigkeit?
5. Neue Struktur aufbauen
Mein Tagesablauf war zuvor gut vorgegeben und strukturiert – manchmal zu viel. Jetzt muss ich eine neue Struktur entwickeln und das bedeutet:
- Wie sollen meine Tage starten, wenn ich im Bett liegen bleiben könnte?
- Wie soll mein Tag aussehen, wenn nicht ein Meeting das andere jagt?
- Wie erlebe ich den Wochenstart, wenn um mich herum viele in gewohnte Strukturen zurückkehren?
- Wie ist der Verlauf der Wochen und Monate generell – was brauche ich?
Ich möchte mir nun an jedem neuen Tag überlegen, wie ich diesen gestalte. Denn nur ausruhen kann man auch nur eine gewisse Zeit lang. Muße tun ist sowieso für Babyboomer ganz herausfordernd. Aber damit werde ich mich auch beschäftigen. Langsamer werden, Zeit nehmen für Dinge, die „unter den Tisch gefallen sind“ und nicht alles auf einmal machen. Mehr Zeit für die Dinge finden, die mir wirklich Spaß machen. Aber auch eine neue eigene Struktur zu entwickeln, um Orientierung zu haben. Ich habe mir für den ersten Probemonat schon einige feste Termine gesetzt, aber auch bewusst Freiräume eingeräumt, um darüber nachzudenken.
6. Selbstgestaltung wird nun wichtig
Wichtig für mich ist eine innere Auseinandersetzungen mit dem, was ich bislang geleistet, geschaffen oder gestaltet habe – ähnlich, wie meine Klientin aus der Begleitung. Damit werde ich mich in der nächsten Zeit zuerst beschäftigen. Denn dies hilft beim Hineinwachsen in die „Freiheit des Alters“, in eine Lebensphase, die von mehr Selbstbestimmung und einer neuen Art von Verantwortung geprägt ist. Ich suche wieder die Kreativität oder schöpferische Kräfte, die manchmal im Berufsalltags mehr oder weniger eingeschlafen sind oder für die einfach kein Platz da war.
Dass ist für Babyboomer vielleicht besonders schwierig, denn die Werte Zusammenhalt, Loyalität, Sicherheit, Disziplin und Fleiß haben mich lange Zeit getragen und viele haben in ihrer Berufstätigkeit wenig eigenes entwickeln können. Da war wenig Raum und vor allem wenig Zeit vorhanden bzw. Babyboomer haben mit ihrer Arbeitseinstellung auch das Erschöpfungssyndrom Burnout geprägt. Da gilt es, ein neues Lebenstempo zu finden und damit eine neue Identität.
Und nun?
Alle oben genannten Punkte und die Reflexion über meinen „inneren Zustand“ helfen mir, diesen neuen Abschnitt im Leben gut zu gestalten und ihn, wie viele vorherige Phasen zu einem wertvollen Teil meines Lebens zu machen. Es steht was Neues an – es kann spannend und lebendig werden. Das liegt an mir. Und wenn es mir gut gelingt, dann kann ich auch darauf irgendwann zurückblicken, im Sinne eines gelungenen Lebens und dazu gehört, das bewusste Loslassen – auch wenn es manchmal weh tut. Ich habe keine Angst davor!
“Es liegt eine ganz neue Art von Leben vor uns, voller Erfahrungen, die nur darauf warten, Realität zu werden. Einige nennen es Ruhestand. Ich nenne es Glückseligkeit.” (Betty Sullivan)
Zum Weiterlesen:
Für den Überblick empfehle ich die Lebensphasen nach Romano Guardini als Übersicht
Romano Guardini: Die Lebensalter, Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, topos taschenbücher, Würzburg 2010.