Persönliche und körperliche Grenzen erkennen und stärken
Oder: Warum Grenzen Sicherheit geben.
Grenzen sind ein zentrales Thema in zwischenmenschlichen Beziehungen und spiegeln oft tiefere psychologische Themen wider. Die Erfahrung von Grenzen erleben wir meist im Kontakt mit anderen Menschen, da diese erst durch Interaktionen bewusst oder spürbar werden.
Eine meiner Klientinnen formulierte dies sehr treffend im Erstgespräch: „Ich suche nach meinen eigenen Grenzen, da ich in wichtigen zwischenmenschlichen Kontakten oft das Gefühl habe, überrannt zu werden“. Ihre Frage bzw. ihr Auftrag an mich lautete: „Wo liegen meine eigenen Bedürfnisse und warum kann ich sie selbst so schwer wahrnehmen, um dann meine Grenzen zu schützen?“
Diese Suche nach den eigenen Bedürfnissen und Grenzen führte uns auf eine gemeinsame Erkundung der inneren Welt. Wichtig war hier auch, welche Erfahrungen hatte sie in der Kindheit mit Grenzen erlebt? Denn dort lernen wir erstmalig, unsere eigenen psychischen und physischen Grenzen wahrzunehmen.
Ihre letzte Beziehung war daran gescheitert, dass ihre Grenzen von ihrem Partner nicht respektiert wurden. Sie hatte das Gefühl, dass ihre eigenen Bedürfnisse immer wieder übergangen wurden, bis es nur noch eine Lösung gab: den endgültigen Bruch und dass war schmerzhaft.
Der Körper zeigt die Grenze
Das Thema Grenzen ist komplex, und die Fähigkeit, sie zu setzen und zu wahren, ist für viele Menschen mit großen Herausforderungen verbunden. Rolf Sellin beschreibt in seinem Buch „Bis hierhin und nicht weiter“, dass Grenzen vor allem über den Körper spürbar sind. Er stellt in seinem Buch viele prägnante Fragen, die verdeutlichen, wie schwer es im Alltag sein kann, seine eigenen Grenzen klar zu definieren. Noch schwieriger wird es, sie überhaupt zu spüren – wie es auch bei meiner Klientin der Fall war. Wenn die eigenen Grenzen wiederholt verletzt werden und von Außen nicht wahrgenommen werden, bleibt oft nur noch der Rückzug oder das Ende einer Beziehung – so wie bei meiner Klientin.
Was ist eine gute Abgrenzung?
Gute Abgrenzung bedeutet, sich selbst bewusst zu werden, wo die eigenen Bedürfnisse, Werte und Schutzräume liegen – und dies im Kontakt mit anderen klar zu kommunizieren. Elfriede Dinkel-Pfrommer, meine Somatic Experiencing Ausbilderin, beschreibt es treffend: „Kontakt findet an der Grenze statt.“ Denn die größte Herausforderung ist es, bei sich zu bleiben und trotzdem mit dem Gegenüber im Kontakt zu sein. Dafür brauchen wir eine gesunde Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Nur wenn wir unsere eigenen körperlichen und emotionalen Reaktionen auf bestimmte Situationen oder Personen erkennen, können wir verstehen, wo unsere persönlichen Grenzen liegen.
Die verschiedenen Arten von Grenzen
In einem früheren Artikel habe ich die verschiedenen Arten von Grenzen beschrieben. Es ist wichtig zu betonen, dass das Thema Grenzen viele Facetten hat. Mindestens sechs Arten von Grenzen sind im Umgang mit anderen und uns selbst essentiell, denn es gibt viele Ebenen auf denen man Grenzen spüren kann oder sie leider auch überschreitet.
- Emotionale Grenzen: Hier geht es darum, welche emotionalen Belastungen oder Offenbarungen wir bereit sind zu tragen oder zu teilen.
- Intellektuelle Grenzen: Diese betreffen den Respekt gegenüber unseren eigenen Meinungen und Überzeugungen sowie denen anderer.
- Materielle Grenzen: Dies umfasst den Umgang mit Besitz und Geld.
- Zeitliche Grenzen: Das bedeutet, mit was oder wem verbringe ich meine Zeit und wie sinnvoll setze ich sie ein.
- Körperliche Grenzen: Diese betreffen unseren persönlichen Raum und den körperlichen Kontakt zu anderen.
- Sexuelle Grenzen: Hier geht es um unsere Komfortzonen und Einverständnis in Bezug auf sexuelle Intimität.
Der Weg zur bewussten Abgrenzung
Die Arbeit an den eigenen Grenzen erfordert Selbstreflexion und Achtsamkeit bezogen auf vier Fragen:
- Was bedeutet das Wort Grenze für mich überhaupt?
Vielen Menschen fallen viele Definitionen zum Thema Grenzen ein. Aber den meisten, so wie bei meiner Klientin, fällt die körperliche Grenze, also die Signale, die von ihm ausgehen, aber auch der Schutz der eigenen Haut meistens gar nicht ein. Elfriede Dinkel-Pfrommer beschreibt dieses Phänomen wie folgt: „Infolge von verunsichernden Bindungserfahrungen und infolge von Traumatisierungen können diese Signale oft nicht wahrgenommen werden, nicht als achtenswert gesehen und schon gar nicht in Handlungen umgesetzt werden.“ - Wo habe ich in der Vergangenheit das Gefühl gehabt, dass meine Grenzen verletzt wurden?
Hier geht es um die Reflexion von Situationen, die typisch dafür sind, dass man immer wieder in solche Situationen gelangt. Meine Klientin berichtet z.B. über eine Tanzveranstaltung, bei der ein Tanzpartner, ihr viel zu nah und eng Kontakt suchte. Und obwohl ihr diese Nähe unangenehm war, konnte sie nicht deutlich genug signalisieren, wieviel Abstand sie benötigt. Erst im Anschluss hat sie sich geärgert, dass sie den Tänzer so nah an sich heranließ. - Welche körperlichen oder emotionalen Signale habe ich ignoriert?
Dies erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Körpersignalen bezogen auf Situationen, die man erlebt hat. Gab es ein flaues Gefühl im Magen, ein Ansteigen des Herzschlags oder das Gefühl der emotionalen Überforderung? Vielleicht änderte sich auch die innere Stimmungslage – all das kann helfen, Grenzen früher wahrzunehmen. In der Therapie kann es unterstützend sein, diese Empfindungen in einem geschützten Rahmen zu erkunden und zu verstehen, wo die eigenen Trigger liegen, um sich selber zukünftig besser zu spüren. Wichtig ist, dass man sie fühlt und beschreibt – ihnen eine Form, Farbe oder Bild gibt. Dann werden sie wirklich sichtbar und noch wichtiger: fühlbar im Innen und im Außen. - Wie kann man Grenzen klar und respektvoll kommunizieren?
Es erfordert Mut und Fähigkeit deutlich, „Nein“ zu sagen oder für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, auch wenn das zu Konflikten führen kann. Manches Gegenüber braucht eine klare Ansprache. Vielleicht haben wir es ja auch mit jemanden zu tun, der selbst Probleme mit Grenzen hat? Im Fall meiner Klientin war das Gegenüber relativ taub für das Aufzeigen von Grenzen – ein echter „Grenzverletzer„. Umso wichtiger ist dann die eigene Zentrierung und Klarheit, um immer deutlicher zu zeigen: Stopp, Halt – bis hierin und nicht weiter. Wir lernen so lange an unseren Grenzen durch ein Gegenüber zu arbeiten, bis sie wirklich deutlich nach Außen sichtbar sind. Und zwar energetisch!
Die Essenz der Grenzen
Grenzen sind eines der zentralen Themen im Umgang mit anderen Menschen: Es geht um Selbstwahrnehmung, Selbstachtung und die Fähigkeit, gesunde, respektvolle Beziehungen zu führen. Sie zu erkennen und zu wahren, ermöglicht es uns, ein erfülltes und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nur wenn wir unsere eigenen Grenzen klar spüren, können wir im Kontakt mit anderen authentisch bleiben und erkennen, wann es genug ist. Das schafft Raum für wirkliche Nähe – ohne sich selbst zu verlieren!
Für meine Klientin bedeutete die Arbeit an ihren Grenzen eine bemerkenswerte Veränderung: Sie lernte, ihre Bedürfnisse nach Nähe und Distanz deutlicher zu kommunizieren – und erlebte zu ihrer Überraschung, dass ihr Gegenüber diese respektierte. Das Ergebnis? Eine deutliche Verbesserung des Wohlbefindens, auf beiden Seiten.