Beratungsbeispiele aus meiner Praxis

Die vielen Seiten in uns – Wie du deine inneren Anteile verstehen und stärken kannst

Wer sich schon einmal mit dem Thema Inneres Kind beschäftigt hat, kennt vermutlich die Bücher von Stefanie Stahl. Sie hat mit ihren Modellen des „Sonnenkindes“ und „Schattenkindes“ die Bedeutung unserer kindlichen Prägungen nähergebracht. Doch oft bleibt es dabei nicht bei nur einem inneren Anteil. Unsere Psyche ist komplex – und genau da liegt auch eine große Chance für Heilung und Wachstum.

Eine wertvolle Erweiterung in diesem Bereich bietet die Arbeit der Traumatherapeutin Luise Reddemann, insbesondere ihr Ansatz der PITT – Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie. Reddemann geht davon aus, dass wir viele verschiedene innere und frühere Anteile in uns tragen. Sie und andere Vertreter der Therapierichtung nennen diese Anteile auch Ego-States.

Gerade die verletzten oder traumatisierten Anteile können uns im Alltag – oft unbewusst – beeinflussen und den Alltag in vielerlei Form erschweren.

Beispiele aus dem Alltag für innere verletzte Anteile

Sei es, dass wir bei bestimmten Bemerkungen des Lebenspartners getriggert werden und emotional über reagieren. Oder uns im Job durch Gestik und Mimik der Kolleginnen und Kollegen beschämt fühlen. Auch eine belanglose Begegnung im Alltag mit einem Unbekannten führt zur inneren Irritation – aus der wir nur schwer wieder herausfinden. Sogar unsere eigenen Kinder können uns mit ihrem Verhalten an einen früheren inneren Anteil erinnern.

Aber auch Chancen, die man aktuell nicht ergreift, weil man sich nicht traut sichtbar zu werden. All dies sind Beispiele dafür, dass es eine innere Verletzung gibt, die auf eine frühere Lebensphase hinweist. Und manchmal ist die innere Bühne aufgrund der gemachten traumatischen Erfahrungen so komplex, dass sich viele Anteile melden. Immer dann, wenn im „Jetzt“ heftige innere Affekte zum Vorschein kommen, die nicht gehalten werden können.

Dann kann man davon ausgehen, dass sich mindestens ein früherer verletzter Anteil meldet.

Innere Anteile – ein hilfreiches Bild

Ein sehr anschauliches Bild für diese innere Vielfalt sind die bekannten Matroschka-Figuren – diese ineinander verschachtelten und zum Teil bunt bemalte Holzpuppen. Ähnlich wie diese Figuren tragen wir verschiedene Anteile aus jüngeren Jahren in uns. Manche sind gut sichtbar, manche verstecken sich tief im Inneren. Manche Anteile sind stark und tragen uns durch den Alltag, unsere Ressourcen. Andere wiederum sind verletzt, ängstlich oder beschämt und wütend.

Mit beiden Seiten der Anteile arbeite ich in der Therapie mit meinen Klientinnen und Klienten. Denn es geht darum, eine Waagschale zu entwickeln: also die Ressourcen herauszufinden, die heute helfen, andere schlimme Erfahrungen zu verarbeiten.

Das Bewusstsein über diese inneren Anteile kann im therapeutischen Prozess unglaublich heilsam sein. Denn nur wenn wir sie wahrnehmen und verstehen, können wir ihnen mit Mitgefühl begegnen und sie letztlich wieder in uns integrieren. Sie gehören zu uns – auch wenn das erstmal schmerzhaft sein kann.

Warum es den erwachsenen Anteil braucht

Ein zentraler Punkt dabei ist, dass ich in der therapeutischen Arbeit zunächst den sogenannten erwachsenen Anteil anspreche und stärke. Dieser Anteil ist unsere reife, gegenwärtige Seite – die Person, die heute hier im Hier und Jetzt Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen kann. Sie sitzt mir in der Praxis gegenüber und wird als erstes gestärkt. Im Bild oben ist es die größte Figur.

Oft erscheinen unsere kindlichen oder verletzten Anteile besonders laut oder präsent, wenn wir uns überfordert, hilflos oder emotional aufgewühlt fühlen. In solchen Momenten scheint es fast, als ob ein kleinerer Anteil von damals die Kontrolle übernimmt.

Doch um heilsam mit diesen Anteilen zu arbeiten, braucht es die erwachsene Stimme – die Seite in uns, die heute für Sicherheit, Orientierung und Fürsorge sorgen kann. Dafür gilt es am Anfang erstmal gut zu sorgen. Der Raum indem wir arbeiten bietet diesen Schutz – auch imaginierte (also vorgestellte) Helfer können hier wichtig sein und müssen vielleicht erstmal entwickelt werden.

Das Ziel: Integration statt Verdrängung

Die Arbeit mit inneren, früheren Anteilen bedeutet nicht, bestimmte Gefühle oder Erinnerungen zu verdrängen oder loswerden zu wollen. Im Gegenteil: Es geht darum, diese Teile liebevoll anzuerkennen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und sie wieder in das eigene Selbstbild zu integrieren. Durch diese innere  Annahme kann sich ein stabileres, ausgeglicheneres Selbst entwickeln. Auch die Würdigung der gemachten Erfahrungen gehört zum Heilungsprozess.

Ein wichtiger Schritt dabei ist, sogenannte Gegenbilder zu den schmerzhaften Erfahrungen der Vergangenheit aufzubauen. Das bedeutet, neue, positive Erfahrungen zu machen und innere Ressourcen zu stärken, die uns helfen, mit schwierigen Gefühlen besser umzugehen.

Erste Hilfe für den Alltag

Auch wenn die tiefergehende Arbeit mit inneren bzw. früheren Anteilen häufig im geschützten Rahmen einer Therapie stattfindet, kann man bereits im Alltag einiges tun, um den Kontakt bewusster wahrzunehmen:

1. Achtsames Innehalten

Nimm dir regelmäßig Momente der Stille. Frage dich:

  • Wie geht es mir gerade?
  • Wer „spricht“ da in mir bzw. wie alt bin ich gerade?
  • Ist es mein erwachsener Anteil oder meldet sich ein jüngerer, verletzter Teil?

Damit bekommt man ein besseren Gefühl für den erwachsenen Anteil, den wir alle in uns haben.

2. Innere Dialoge führen

Sprich innerlich mit dir selbst, besonders mit den verletzten oder ängstlichen Anteilen. Du kannst dir vorstellen, wie dein erwachsener Anteil beruhigend, fürsorglich oder stärkend zu dem jüngeren Teil spricht. Hier braucht es vielleicht etwas Imagination, also Vorstellungskraft, um gut für sich zu sorgen. Vielleicht gibt es noch wenige Worte für die eigene Fürsorge.

3. Visualisierungen nutzen

Stell dir deine inneren und jüngeren Anteile bildhaft vor – wie die Matroschka-Figuren. Welcher Anteil ist gerade sichtbar? Welcher versteckt sich? Alle Anteile gehören zu dir. Die innere Bühne ermöglicht es, eine gesunde Distanz aufzubauen – so als würde man von Außen darauf schauen. Luise Reddemann schreibt dazu in Imagination als heilsame Kraft: „Sie machen sich klar, dass Sie Ihren Körper, Ihre Gedanken, Ihre Gefühle und Ihre Stimmungen beobachten können.“

4. Ressourcen stärken

Überlege, was dir guttut oder auch, was Dir früher geholfen hat, mit schwierigen Situationen umzugehen: Bewegung, Musik, Gespräche, Natur, Tiere oder kreative Tätigkeiten und wichtige Lebensbegleiter. Diese Ressourcen sind wichtig, deine emotionale Stabilität zu fördern und deine Selbstfürsorge zu aktivieren. Auch spirituelle Begleiter oder innere, hilfreiche Wesen können helfen, ein Gegengewicht zu erzeugen – dafür braucht es vielleicht etwas Übung.

5. Professionelle Begleitung suchen

Manche Themen lassen sich alleine schwer greifen oder verarbeiten. Eine therapeutische Begleitung kann helfen, den Kontakt zu den inneren und verletzten Anteilen behutsam aufzubauen und schwierige Erfahrungen sicher zu integrieren. Denn manchmal wird im Verlauf der Therapie vielleicht ein noch jüngerer Anteil sichtbar, der noch mehr Unterstützung braucht. Und diese Arbeit ist oft verbunden mit Trauer und Trost – hier ein gutes Gegenüber zu spüren ist für die Verarbeitung enorm hilfreich.

Und nun?

Jeder Mensch trägt mehrere innere und verletzte Anteile in sich. Diese Vielfalt macht uns aus – sie kann uns fordern, aber auch bereichern. Je bewusster wir diese innere Landschaft wahrnehmen und lernen, mit ihr umzugehen, desto mehr wächst unser inneres Gleichgewicht, unsere Selbstwirksamkeit und letztlich unser Wohlbefinden.

Es ist vor allem in Umbruchsituationen sinnvoll, diese innere Bühne besser kennenzulernen, denn die verletzten, inneren Anteile können einiges im Jetzt dazu beitragen, dass eine gute Veränderung verhindert wird.

Veränderung beginnt in dem Moment, in dem wir uns entscheiden, dass etwas anders sein soll. – Luise Reddemann

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