Bin ich hier sicher?
„Wir investieren mehr Energie darin, mit Bedrohungen fertig zu werden, als zu erkennen, was unser Nervensystem braucht, um sich sicher zu fühlen.“ Stephan Porges
Unbewusst stellen wir uns in jeder Situation immer wieder dieselbe Frage: Bin ich hier sicher? Warum Sicherheit so entscheidend für unser Leben ist, warum wir Menschen beständig danach suchen und wie ein tieferes Verständnis unseres Nervensystems dabei helfen kann, ein stabileres Sicherheitsgefühl zu entwickeln. Dies möchte ich in diesem Artikel näherbringen.
Außerdem biete ich Lösungswege, um Momente der Sicherheit bewusster wahrzunehmen — ein erster Schritt zu mehr Wohlbefinden.
Die Suche nach Verbundenheit
Von Geburt an suchen wir nach Verbindung. Sie ist unser erster Anker für innere Sicherheit. Deb Dana, Therapeutin und Expertin der Polyvagal-Theorie, beschreibt es so:
„Wir kommen mit der Anlage auf die Welt, zu anderen Menschen in Verbindung zu treten. Vom ersten Atemzug an streben wir unser Leben lang danach, uns in unserem Körper, unserer Umgebung und in unseren Beziehungen sicher zu fühlen.“
Diese Sicherheit entsteht durch Kontakt und Resonanz mit anderen Menschen. Eine feinfühlige Mutter oder Bezugsperson hilft uns, Emotionen zu regulieren und Resilienz zu entwickeln. Unser Nervensystem lernt, äußere Reize zu verarbeiten und emotionale Balance zu finden. Eindrücke von Außen führen dann nicht dazu, dass wir dauernd in Panik, Angst oder Unsicherheit geraten. Das ist der Idealfall und weist auf ein gut reguliertes, flexibles Nervensystem hin!
Wenn die innere Sicherheit brüchig ist
Nicht jede Kindheit bietet die notwendigen Bausteine, um ein belastbares Nervensystem zu entwickeln. Depressionen, Süchte, Abwesenheit oder psychische Erkrankungen der Eltern können dazu führen, dass wir wenig Schutz vor äußeren Stressoren aufbauen.
Dann können schon harmlose Bemerkungen — wie ein schnippischer Kommentar einer Kollegin — uns verunsichern. Das Gefühl von Hilflosigkeit setzt ein, wir können nicht adäquat darauf reagieren, d.h. wir ziehen uns zurück oder werden beispielsweise übermäßig wütend.
Überwältigende Erlebnisse, also Traumata, können unser Nervensystem dauerhaft aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn keine Sicherheit im Körper gespürt wird, ist der Mensch in einem Zustand chronischen Stresses — mit oft weitreichenden Folgen: Herzprobleme, Bluthochdruck, Muskelverspannungen oder ein geschwächtes Immunsystem sind nur einige körperliche Symptome.
Ohne innere Sicherheit ist der Mensch in einem permanenten Stresszustand!
Die gute Nachricht: Das Nervensystem kann lernen
Das Nervensystem wird zwar durch frühe Erlebnisse geprägt, aber es ist jederzeit in der Lage, neue Erfahrungen zu machen. Regulation kann – z.B. mit einem sicheren Gegenüber, wie mit Somatic Experiencing – neu gelernt werden. In der Resonanz und Verbundenheit mit einer anderen Person kann das Nervensystem lernen, sich immer besser zu regulieren und mit Stress von Außen besser umzugehen.
Verbindung ist der Schlüssel zur Heilung
„Obwohl wir in einer Kultur leben, die Autonomie und Unabhängigkeit preist, sind wir neurobiologisch dazu bestimmt, in Verbindung zu leben,“ erklärt Deb Dana. Doch nicht jede Begegnung ist stärkend. Achtsamkeit hilft, sich bewusst zu fragen: Wie fühle ich mich gerade jetzt?
Nehmen Sie sich einen Moment, um in sich hinein zu spüren:
- Was geschieht in meinem Körper?
- Was fühle ich?
- Was denke und sage ich?
- Bin ich sicher oder in Gefahr?
Vielleicht ist der Kontakt zum Inneren nicht leicht, geht vielleicht gar nicht – das kann ein Hinweis darauf sein, dass das Spüren in sich hinein verlernt wurde. Dies hat sicher einen guten Grund, aber der Weg der Heilung geht über dieses nach Innen wahrnehmen.
Die Leiter der Sicherheit
Deb Dana veranschaulicht Zustände von Sicherheit mit dem Bild einer Leiter. Am oberen Ende steht Sicherheit: Wir fühlen uns verbunden, entspannt und offen für die Welt. Das Herz schlägt ruhig, die Atmung fließt tief und gleichmäßig. Diese Ruhe erlebt man z.B., wenn wir mit lieben Menschen Zeit verbringen oder die Nähe eines Tieres genießen. Auch an einem Ort, wo man sich alleine wohlfühlt, zeigt sich diese Sicherheit. Diese Momente nähren unser Nervensystem und stärken unsere innere Balance.
Rutschen wir in den mittleren Bereich der Leiter, aktiviert sich unsere Alarmbereitschaft. Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird flach. Instinktiv prüfen wir: Bin ich hier noch sicher? Wenn unser Nervensystem die Situation als bedrohlich einstuft, gleiten wir weiter nach unten — in einen Zustand, der von Angst, Isolation oder Taubheit geprägt ist. Hier fühlen wir uns abgeschnitten, als läge eine unsichtbare Barriere zwischen uns und der Welt.
Die Leiter erkunden
Bewegungen auf der Leiter von oben nach unten oder von unten nach oben sind normal. Wir können uns – auch wenn wir wollen – nicht immer am oberen Teil der Leiter befinden, müssen aber auch nicht unten verharren. Dies aufzulösen und im ersten Schritt erstmal bewusst wahrzunehmen, kann durch zwei gezielte Fragen erreicht werden:
- Am unteren Ende der Leiter: Was bringt mich von hier weg?
- Am oberen Ende der Leiter: Was hilft mir hier zu bleiben?
In den Therapiesitzung arbeite ich z.B. auch gezielt damit, genau den Übergang von oben nach unten, also das Dazwischen, zu erspüren. Denn dort haben wir die Möglichkeit, dagegenzuwirken und im Idealfall nicht in den Kollaps oder die Resignation zu gehen. Dafür braucht es etwas Übung, am besten durch Begleitung und Körpergewahrsein.
Den ersten Schritt tun
Der Neurowissenschaftler Stephen Porges, Begründer der Polyvagal-Theorie, bringt es auf den Punkt, wie oben bereits zitiert:
„Wir investieren mehr Energie darin, mit Bedrohungen fertig zu werden, als zu erkennen, was unser Nervensystem braucht, um sich sicher zu fühlen.“
Die Erforschung der eigenen Leiter, idealerweise begleitet von einer einfühlsamen Therapeutin, hilft, diese Mechanismen besser zu verstehen und neue Strategien zur Selbstregulation zu entwickeln. Mit der Zeit wird es leichter, äußere Einflüsse zu steuern und Momente echter Sicherheit zu erleben.
Sicherheit ist Verbundenheit
Am Ende führt der Weg zu Sicherheit immer über Verbindung — zu uns selbst und zu anderen. Oder, um es mit den Worten der Soziologin Emile Durkheim zu sagen:
„Wir sind erst sicher, wenn wir sicher sind, dass wir nicht allein sicher sind.“ Emile Durkheim (1858-1917)
Einen guten Überblick geben diese Videos:
Das Erleben von Sicherheit – YouTube
Trauma und Sicherheit – die Polyvagal-Theorie – YouTube