Toxische Scham: Ein lähmendes Gefühl und wie wir damit umgehen können
Was ist Dir das menschlichste? Jemand Scham ersparen. (Friedrich Nietzsche)
Scham – ein unangenehmes Gefühl, das viele von uns zu vermeiden suchen. Doch ist Scham wirklich so negativ, wie sie oft empfunden wird?
Tatsächlich kann eine gesunde Scham hilfreich sein: Sie erinnert uns daran, unsere Werte zu reflektieren und unser Verhalten anzupassen. Scham zeigt uns, wenn Grenzen überschritten wurden, und bewahrt unsere Würde – vorausgesetzt, wir nehmen sie rechtzeitig wahr und nutzen sie konstruktiv.
Die zwei Gesichter der Scham
Nicht jede Scham ist jedoch gesund. Im Gegensatz zur natürlichen Scham, die uns schützt, wirkt toxische Scham zerstörerisch. Sie greift unseren Selbstwert an und vermittelt das schmerzhafte Gefühl, fehlerhaft oder „nicht gut genug“ zu sein.
Toxische Scham wurzelt oft in unserer Kindheit und kann uns ein Leben lang begleiten. Den Ursprung und Umgang mit der toxischen Scham beschreibe ich in diesem Artikel.
Wie entsteht toxische Scham?
Normalerweise befindet sich ein Kind am Anfang des Lebens in einem Zustand völliger Unschuld. Es ist auf eine enge Verbindung zur Bindungsperson angewiesen, die durch Nähe, Stimme oder Berührung regulierend wirkt. In diesem frühen Stadium kann ein Kind nicht zwischen sich selbst und der Bindungsperson unterscheiden. Ein scharfes „Nein“ etwa wird schnell als Ablehnung der gesamten Person empfunden – insbesondere, wenn danach keine liebevolle Wiederverbindung stattfindet.
Scham wird auch als Erziehungsmittel eingesetzt, um Kinder zurechtzuweisen. Etwa ab dem 15. Lebensmonat entwickelt sich das Schamgefühl. Es kann nützlich sein, um gefährliches Verhalten, wie das Greifen in eine Steckdose, zu verhindern.
Doch wenn Scham zur Methode wird, Neugier zu unterdrücken oder das Kind zu beschämen, hinterlässt sie tiefe Spuren. Später prägt sich Scham durch Erlebnisse des Gesehen- oder Übersehen werdens aus. In Schule und Beruf, aber auch in den sozialen Medien gibt es immer wieder Beispiele für die Entwicklung von tiefen Schamgefühlen, die eine lebendige Entwicklung behindern.
Ursachen für toxische Scham:
- Strenge Erziehung: Wenn Kinder für Fehler nicht nur kritisiert, sondern in ihrer Person abgewertet werden („Du bist so dumm“ statt „Das war nicht richtig“).
- Emotionale Vernachlässigung: Das Gefühl, nicht wichtig oder liebenswert zu sein, weil emotionale Bedürfnisse übergangen oder gesehen werden.
- Traumatische Erlebnisse: Missbrauch, Mobbing oder andere Verletzungen können tiefe Schamgefühle hervorrufen.
- Übernommene Scham: transgenerationale Übernahme von Schuld, die in Scham übertragen wird. Denn wenn wir uns der Schuld bewusst werden, dann schämen wir uns. Um z.B. Eltern vor diesem Gefühl zu schützen, schämt sich dann die nächste Generation dafür.
Körperliche und seelische Auswirkungen toxischer Scham
Scham löst im Körper eine sympathische Reaktion aus, die mit Stress einhergeht: Man findet beispielsweise keine Worte mehr. Der Körper hat in diesem Zustand im Wesentlichen zwei Reaktionsmöglichkeiten: Wut oder Kollaps, wobei der Körper oft in sich zusammensinkt. So mancher, der sich schämt, würde am liebsten im Erdboden versinken.
Scham bedeutet, sich vor anderen nicht zeigen zu können oder zu wollen. Sie ist körperlich unübersehbar und überkommt einen Menschen schneller als fast jede andere Emotion, vergleichbar nur mit Angst. Der Atem stockt, der Kopf neigt sich zur Seite und der Körper versteift sich, insbesondere im Beckenbereich.
Scham kann Gefühle von Minderwertigkeit, Wertlosigkeit und Anders-sein hervorrufen. Sie stellt den Selbstwert einer Person infrage und entsteht häufig durch das Empfinden, vor anderen oder vor den eigenen Idealen versagt zu haben.
Toxische Scham beeinflusst nicht nur das Selbstbild, sondern auch (Liebes-)Beziehungen und Lebensentscheidungen.
Typische Folgen sind:
- Selbstzweifel und geringes Selbstwertgefühl.
- Vermeidung von Nähe und Intimität aus Angst, abgelehnt zu werden.
- Perfektionismus oder übermäßiges Streben nach Anerkennung, um die Scham zu überdecken. (Burnout-Gefahr)
- Selbstsabotage oder destruktives Verhalten.
Wie kann man toxische Scham überwinden?
Bewusstwerdung
Der erste Schritt ist, eigene toxische Scham zu erkennen. Achte auf innere Dialoge, die sich deutlich kritisch oder abwertend anhören. Vielleicht gibt es auch eine körperliche Schamhaltung? Wo spannt man sich an in der Schamhaltung? Z.B. durch eine „erhöhte“ Nase, der Nacken ist angespannt, man schaut über die Menschen hinweg.Ursprung erforschen
Frage dich: Wann habe ich dieses Gefühl zum ersten Mal erlebt? Welche Erfahrungen könnten es verursacht haben? Hier können auch Ekel und Wut gute Ratgeber sein, um an die eigentliche Ursache heranzukommen.Selbstmitgefühl entwickeln
Stelle dir vor, du würdest mit einem lieben Freund sprechen, der dieselben Gefühle hat. Wie würdest du ihn trösten? Wende diese Worte auf dich selbst an. Oder ersetze negative Gedanken durch konstruktive Sätze wie: „Ich bin genug, so wie ich bin.“Scham entmachten
Scham wird oft durch Schweigen und Geheimhaltung verstärkt. Sprich mit einem vertrauenswürdigen Menschen über deine Gefühle oder suche therapeutische Unterstützung, um an die Hintergründe dieses intensiven Gefühls zu kommen.Grenzen setzen
Verabschiede dich von Menschen oder Situationen, die dir ein schamhaftes Gefühl geben. Umgib dich stattdessen mit unterstützenden und wohlwollenden Personen.
Mit den Augen der Anderen
Toxische Scham ist mächtig, aber nicht unbesiegbar. Wir schauen quasi immer mit den Augen der Anderen auf uns selbst. Mit Geduld und Unterstützung kann man lernen, diese schädlichen Gefühle zu heilen und ein Leben aufzubauen, das von mehr Selbstliebe und Akzeptanz geprägt ist.
Praktische Fragen zur Spurensuche:
- Welche abwertenden Worte oder Sätze habe ich in meiner Kindheit gehört?
- In welchen Situationen taucht meine Scham besonders häufig auf?
- Welche Auswirkungen hat sie auf meinen Körper z.B. meine Haltung oder meine Beziehungen?
Die Ursachen der Entwicklung von toxischer Scham herauszubekommen sind wirklich erfolgsversprechend, weil mancher durch dieses intensive Gefühl, das im Inneren schlummert weit unter den eigenen Möglichkeiten bleibt.
Denn Menschen mit toxischer Scham haben oft Schwierigkeiten, für sich selbst einzustehen oder ihre Grenzen zu setzen. Sie fühlen sich schuldig oder minderwertig, wenn sie für ihre Bedürfnisse einstehen, und sind daher oft bereit, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückzustellen, um die Bedürfnisse anderer zu erfüllen.
Aus diesem Grund ist es sinnvoll auf Spurensuche zu gehen. Wo kommt sie her und im nächsten Schritt – wie kann ich sie entmachten? Auch hier kann der Körper gute Hinweise zur Heilung geben, indem ich mehr die Haltung der Würde einnehme.